Leserbrief zu dem Artikel "Seehofer will besseres Verhältnis in Tschechien", Ausgabe vom 21.12.2010
mit der Bitte um Veröffentlichung.
Der kollektive Blick nach Vorne erscheint bestechend dynamisch. Seehofer und seine Gastgeber an der Moldau mögen sich auf die Schultern klopfen, weil es ihnen gelungen ist, den zündstoffbeladenen Namen "Benes" bei ihrem Treffen auszuklammern.
Mancher wird sich aber fragen, ob führende Politiker heute überhaupt noch die Fähigkeit besitzen, gegenüber Menschenrechtsverletzungen vorbildhaft und offiziell Stellung zu beziehen. Das gilt nicht nur im deutsch-tschechischen Verhältnis, sondern für den gesamten Rechtsraum der EU. Pressefreiheit, freie Meinungsäußerung, unabhängige Gerichtsbarkeit gehören ebenso dazu wie die Wiederherstellung der Würde ermordeter und enteigneter Menschen. Hier scheint noch keine allgemeingültige Form der Politikethik gefunden worden zu sein. Es wird akzeptiert, dass es beim Eintritt neuer Mitgliedstaaten in die EU auf das Vorlegen einer "sauberen" Visitenkarte nicht mehr ankommt.Der Historiker Arnulf Baring wies jüngst in einem Vortrag darauf hin, dass die Deutschen den Vertriebenen nicht einmal im eigenen Land erlaubt haben, um ihre Toten zu trauern. In deutschen Schulbüchern suche man vergeblich nach dem historisch bedeutsamen Dokument der Charta der Vertriebenen, in dem die Vertriebenen bereits 5 Jahre nach der Vertreibung auf Rache und Vergeltung verzichteten. Das habe zu einer großen Unglaubwürdigkeit bei den europäischen Nachbarn geführt. Denn wenn die Deutschen nicht einmal im Stande seien, ihre eigenen Opfer zu betrauern, wie sollte man ihnen Glauben schenken, die Opfer von anderen Völkern zu betrauern. Baring betonte gleichzeitig, dass er dem deutschen Volk die Stärke zutraue, diesen Teil der Geschichte mit zu tragen. Bedauerlich ist aber, dass die derzeitigen Volksvertreter sich selbst nichts mehr zutrauen.
Birgit Krone, Ass.jur, Stuttgart
Süddeutsche Zeitung GmbH, 4.1.2011
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