Der alte Bruno Kreisky war im Umgang mit der veröffentlichten Meinung nicht zimperlich. Legendär sein Rat an den ORF-Journalisten Ulrich Brunner vor laufenden Kameras: „Lernen S’ a bisserl Geschichte, Herr Reporter!“ Mit der Geschichte, da hatte Kreisky recht, haperts bei vielen Zeitgenossen. Denn Legenden und Mythen haben ein langes Leben. Das gilt selbst für Ereignisse wie das Attentat auf Reinhard Heydrich, den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, und das darauffolgende monströse Massaker von Lidice vor 70 Jahren. Noch immer wird die Ermordung Heydrichs als Heldentat des tschechischen Widerstands ausgegeben. Viele Kommentatoren fallen darauf rein, das hat sich auch in diesem Jahr wieder gezeigt. Dabei sprechen die historischen Fakten eine ganz andere Sprache. Nicht erst seit heute weiß man: Die Führung des Widerstands in Prag hatte mindestens zweimal die in London ansässige Exilregierung vor einem Anschlag, der zweifellos eine brutale Vergeltungsaktion und einen massiven Psychoterror nach sich ziehen würde, gewarnt. Aber Edvard Benes und seine Clique schalteten auf stur. Sie brauchten den Haß, der sich nach Lidice gegen die Deutschen entlud, um ihre wohlkalkulierten Vertreibungspläne durchzusetzen. Die Fallschirmspringer, die von britischen Flugplätzen ins Protektorat geschickt wurden, um Heydrich zu töten, wurden um dieses höheren politischen Zieles wegen geopfert – wie die Männer von Lidice. Darauf hinzuweisen ist, wie man heute sagt, politisch unkorrekt. Doch relativiert man schon das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, wenn historische Zusammenhänge aufgedeckt werden?
Ein solcher Vorwurf ist absurd, aber er gehört bis dato zu den Ingredienzien einer wirksamen Propaganda, die sich auf die Sudetendeutschen eingeschossen hat und systematisch ignoriert, daß die Vertriebenen aus Böhmen, Mähren und Schlesien schon früh das von Deutschen verübte Unrecht anerkannt und bedauert haben. Lidice und andere Verbrechen wurden nie geleugnet. „Nachhaltig“, wie man heute sagen würde, hat das nicht gewirkt. Noch immer hat es die historische Forschung schwer, gegen die Legende von der Vertreibung der Tschechen aus den sudetendeutschen Gebieten nach dem Münchener Abkommen von 1938 anzugehen, obwohl namhafte Wissenschaftler seit Jahr und Tag davor warnen, den Abzug der meist tschechoslowakischen Staatsbediensten mit den Massenvertreibungen der Deutschen 1945/46 gleichzusetzen. In der Monatsschrift „Die politische Meinung“ der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung hat Ralf Gebel (Jahrgang 1967) im Jahr 1998 einen Extrakt seiner Bonner Dissertation veröffentlicht: „Auf dem Territorium des späteren Sudetengaus hatten vor dem ,Anschluß‘ an das Deutsche Reich etwa 580.000 Tschechen gewohnt. Danach waren es noch etwa 400.000, rund 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Schon diese Zahlen belegen, daß es nach dem Einmarsch der Wehrmacht keine Massenvertreibungen gab, die vergleichbar wären mit dem, was den Sudetendeutschen nach 1945 widerfuhr. Die Tschechen blieben großenteils an ihrem Wohnort.“ Wie gesagt: Legenden haben ein langes Leben, auch die von der Tschechen-Vertreibung.
Geschichtsschreibung sollte frei sein von politischer Vereinnahmung. Eine idealistische Vorstellung, gewiß. An Beispielen für „Geschichtspolitik“ wird es auch in Zukunft nicht fehlen. Jeweils im August erinnern Historiker und Publizisten an die Potsdamer Konferenz der großen Drei im Sommer 1945. Sie endete bekanntlich mit der Übereinkunft, die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ zu vollziehen. Dieser Artikel XIII wird von polnischen wie tschechischen Offiziellen bis in unsere Tage mißbraucht, um ihre Vertreibungspolitik zu rechtfertigen. Man habe ja nur ausgeführt, was die Siegermächte in Potsdam beschlossen hatten, so das Standard-Argument an der Moldau. Kein Wort davon, daß Vertreibungspläne schon 1938, also noch vor Kriegsbeginn, auf dem Tisch der tschechoslowakischen Exilregierung lagen und mit der britischen Regierung diskutiert wurden. Benes’ Chefpropagandist, der spätere Minister Hubert Ripka, sprach 1944 bereits von der „Entfernung von etwa zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung der Republik“ durch „freiwillige Emigration und organisierten Transfer“. Die „wilde Vertreibung“ nach dem 8. Mai 1945 war dann keine spontane Tat. Sie war angeordnet, mit ihr sollten vollendete Tatsachen für die Potsdamer Konferenz geschaffen werden. Was auch geschah. Noch immer trifft man auf Zeitgenossen, die alle Schuld bei den Benes-Leuten abladen, und sich nicht vorstellen können, wie groß der politische Konsens über den „Abschub“ war. Selbst tschechische Katholiken und christlich-demokratische Volksparteiler fanden nichts dabei, ihn als rechtmäßig zu verteidigen.
Immerhin fungierte ein Professor für Moraltheologie, Monsignore Jan Sramek, als Ministerpräsident der tschechoslowakischen Exilregierung. Geradezu entlarvend ist ein Kommentar in der Parteitung „Lidova demokrace“ vom 4. Juli 1946, in dem darüber Klage geführt wurde, daß in internationalen katholischen Kreisen „kein genügendes Verständnis über den Abschub der Deutschen aus den Gebieten unseres Staates herrscht“. Original-Ton des Kommentators namens Karel Horalik: „Der Abschub der Deutschen aus dem Gebiete unseres Staates war bei der Regierung im Ausland vorbereitet, an deren Spitze Monsignore Dr. Jan Sramek stand. Er hätte sicher dieser Regelung nicht zustimmen können, wenn sie widerrechtlich gewesen wäre und den Normen der christlichen Sittlichkeit widersprochen hätte... Der Abschub der Deutschen, seine Begründung und seine Durchführung tragen den strengsten Stempel internationalen Rechtes, welches in nichts die Normen der christlichen Sittenlehre verletzt.“ Strengster Stempel internationalen Rechtes, Normen der Sittenlehre: Was für eine Verblendung sprach aus diesen Zeilen! Den heutigen Kirchenrepräsentanten ist diese Ungeheuerlichkeit ebenso wenig anzulasten wie den aktuellen Nachfolgern der Sramek-Partei. Sie haben früher als andere damit begonnen, sich von der Kollektivschuld-These abzugrenzen. Aber an der Verstrickung maßgeblicher Kirchenvertreter und sich christlich nennender Politiker in die Vertreibungsgeschichte wird das ganze Ausmaß des Konflikts zwischen Tschechen und Sudetendeutschen deutlich, die ganze böhmische Tragödie. Diese Hypothek abzutragen, gleicht einer politischen Sisyphusarbeit.
Da sind die Kirchen gottlob der politischen Klasse voraus. Vor zwölf Jahren schrieb der als Schachgroßmeister international zu Ehren gekommene ehemalige tschechische Dissident Ludek Pachmann: „Es ist eine traurige Feststellung, daß die Tschechen 1968 im Schatten der fremden Panzer die Probleme ihres Verhältnisses zu den Sudetendeutschen besser verstanden als sie es in der Gegenwart tun. Die Wahrheit läßt sich jedoch nicht auf ewige Zeit unterdrücken.“ Es spricht viel dafür, daß dieses Pachmanns-Diktum noch heute Gültigkeit besitzt.
Dieser Kommentar von Gernot Facius erschien in der Sudetenpost Folge 8 vom 9. August 2012.
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